Michael d'Angelo hatte uns drauf aufmerksam gemacht.
Jetzt haben wir es gekriegt.
Wir dürfen es veröffentlichen.
Jetzt kann es jeder selber nachlesen, oder ausdrucken, oder auswendig lernen und natürlich können wir jetzt auch drüber diskutieren.
Die Fragen der Redaktion hab ich unterstrichen.
Vorsicht lang!
Aus der „Ärzte Zeitung“ vom 15.6.2016
Schilddrüse
Diagnostik und Therapie ändern sich!
Etwa ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland leidet an Störungen der Schilddrüsenfunktion mit beträchtlichen Auswirkungen auf die physische und mentale Gesundheit. Jüngere Erkenntnisse haben einen Paradigmenwechsel eingeleitet, der die Diagnostik und Therapie bei Schilddrüsenfunktionsstörungen nachhaltig verändern wird.
Das Interview führte Thomas Meißner
Aktuelle Position: Direktorin der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen und Zentrallabor – Bereich Forschung und Lehre am Universitätsklinikum Essen
Werdegang: Medizinstudium, dann Weiterbildung zur Internistin, Fachärztin für Endokrinologie, Diabetologie und Andrologie an der Uniklinik Leipzig, 1996 Promotion, 1998-2000 Post-Doc an der University of Wales/Großbritannien, 2002 Promotion (Ph.D.), 2001-2004 DFG Emmy Noether-Nachwuchsgruppenleiterin, 2004 Habilitation, 2006 leitende Oberärztin, 2008 stellvertretende Klinikdirektorin der Klinik für Endokrinologie, und Nephrologie Uni Leipzig, ab 2011 Uniklinikum Essen
Forschungsschwerpunkte Vor allem Schilddrüsenhormonwirkung in Bezug auf Alter und Geschlecht, Schilddrüsentumoren/-Krebs, (neuro-) endokrine Tumoren, Transition in der Endokrinologie und Diabetologie.
Ärzte Zeitung: Frau Professor Führer, die Entdeckung der Schilddrüsenhormon-Transporter habe das Konzept der Schilddrüsenhormon-Wirkungen revolutioniert, haben Sie und Ihre Kolleginnen Professor Klaudia Brix aus Bremen und Professor Heike Biebermann aus Berlin in einem Übersichtsartikel geschrieben. Was haben Sie damit gemeint?
Professor Dagmar Führer: Das jahrzehntealte Konzept, wonach die Hormone T3 und T4 aus dem Blut irgendwie in die Zelle gelangen, um dort ihre Wirkungen zu entfalten, ist definitiv überholt.
Vor zwölf Jahren war erstmals ein Kandidat für eine Art "Eingangskontrolle" in die Zelle gefunden worden, der MCT8-Transporter, der eine zentrale Rolle im Gehirn spielt. Ist das Transportprotein in der Zellmembran defekt, hat das Konsequenzen für die Gesundheit.
Diese Erkenntnis hat einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Solche Transporter, die wir in ihrer Vielfalt bislang nur ansatzweise kennen, machen das System sehr viel facettenreicher.
Ihr Vorhandensein erklärt vieles, was uns im Alltag Patienten berichten und warum wir mit den heutigen Laborparametern an dieser Stelle nicht weiterkommen.
Sie transportieren mal eher T3, mal eher T4 und zusätzlich noch viele weitere Substanzen. Herauszufinden, welcher Schilddrüsenhormon-Transporter in welchem Organ besonders relevant ist, ist eine Aufgabe, die uns noch einige Zeit beschäftigen wird.
Identifiziert worden sind darüber hinaus die Thyronamine. Worum handelt es sich hierbei?
Führer: Thyronamine sind Schilddrüsenhormon-Derivate, die eine andere Wirkung als die klassischen Schilddrüsenhormone selbst haben.
Thyronamine schalten ab, wo T4 bzw. das aktive Hormone T3 aktiviert, sie erzeugen Kälte oder senken die Herzfrequenz, wo T3 Hitze erzeugt oder die Herzfrequenz erhöht. Daher auch der Name "kalte Schilddrüsenhormone".
Wenn ich also T3, T4 im Blut messe und zugleich die Thyronamine bestimme und beides steht in einem bestimmten Verhältnis zueinander, dann erhalte ich womöglich eine Erklärung dafür, warum T3 und T4 im Einzelfall nicht so viel klinische Wirkung entfalten, wie ich anhand der Werte erwarten würde - und umgekehrt.
Zunächst schien es so, als handele es sich um ein einheitliches, grundsätzlich gegensätzliches Wirkungsmuster.
Inzwischen wissen Sie, dass es noch komplizierter ist...
Führer: Thyronamine wirken über G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR) der Zellmembranen, und zwar sehr schnell. Ich spritze ein Thyronamin und sehe einen Effekt, wohingegen Schilddrüsenhormone sehr viel langsamer wirken.
Thyronamine binden aber nicht nur an einen einzigen GPCR, sondern auch an viele weitere Rezeptoren. An welche, das müssen wir klären.
Zwei weitere Fragen, die wir innerhalb des Forschungskonsortiums THYROID TRANS ACT versuchen zu beantworten sind: In welchen Konzentrationen kommen Thyronamine im Blut des Menschen vor? Nur soviel: Thyronaminanalytik ist sehr anspruchsvoll.
Und: Wie und wo im Körper werden Thyronamine gebildet?
Wegen der zentralen Rolle der Thyronamin-Rezeptoren für die Signaltransduktion sind diese zugleich interessante Zielmoleküle für pharmakologische Interventionen. Doch bevor wir die Grundlagen nicht verstanden haben, können wir weder diesen Punkt angehen noch entsprechende Laborwerte beim einzelnen Menschen interpretieren.
Alter, Geschlecht, Fettverteilung, ethnische Zugehörigkeit, Jod- und Selenversorgung - all das und mehr beeinflusst laborchemische Schilddrüsenparameter. Können wir denn im Moment überhaupt sicher sagen, welcher Mensch schilddrüsengesund und welcher schilddrüsenkrank ist?
Führer: Sicher, die Frage muss man stellen angesichts der Komplexität, mit der wir konfrontiert werden. Aber natürlich verfügen wir über jahrzehntelange Erfahrungen mit Schilddrüsenerkrankungen. Anamnese, klinische Untersuchung und klassische Laborparameter ermöglichen uns bei dem Großteil der Patienten einen Eindruck.
Wir haben früher sehr apodiktisch erzählt bekommen, dass jeder TSH-Wert über 2,5 mU/l pathologisch sei. Jetzt dürfen wir nicht ins andere Extrem verfallen nach dem Motto, alles unter einem TSH Wert von 10,0 mU/l sei harmlos.
So einfach ist das nicht. Das klinische Bild ist es, was den Patienten als Individuum auszeichnet, dieses steht im Vordergrund und eben nicht ein Laborwert! Wir sollten immer schauen, welche Gründe sich finden lassen für diese oder jene laborchemische Konstellation.
Lassen Sie uns zwei Einflussfaktoren herausnehmen: Alter und Geschlecht. Wie ist zu erklären, dass das TSH mit dem Alter ansteigt?
Führer: Das scheint ein gewisser physiologischer Mechanismus zu sein. Es gibt Unterschiede in der Neuroregulation der Hypophyse, eine reduzierte T4-Sekretion, eine veränderte T4-zu-T3-Deiodierung und eine wahrscheinlich geringe Empfindlichkeit für Schilddrüsenhormone auf der Organebene. Zumindest kann man dies in Tiermodellen organspezifisch beobachten.
In der Leber ist der Effekt deutlich, während er im Herzen weniger ausgeprägt zu sein scheint. Beim Menschen kommen in der "Altersbetrachtung" der Schilddrüsenfunktion noch zwei Aspekte hinzu, nämlich die Zunahme von Autoimmunthyreoiditiden und auch der Schilddrüsenautonomien mit dem Alter. Dies kann auch ein Grund sein, warum in epidemiologischen Studien die TSH-Kurven im Alter in verschiedenen Populationen unterschiedlich verlaufen.
In deutschen Kohorten wie der SHIP oder der Heinz-Nixdorf Recall Kohorte zeigt sich kein TSH-Anstieg mit dem Alter, in der schottischen Tayside Study oder der australischen Busselton Health Study hingegen schon.
Für die Betrachtung der Schilddrüsenfunktion bei älteren Patienten ist es wichtig zu berücksichtigen, in welchem Land und in welcher früheren endemischen Jodversorgungssituation man sich befindet.
Und gibt es eine Erklärung dafür, dass Schilddrüsenfunktionsstörungen bei Frauen häufiger vorkommen als bei Männern?
Führer: Experimentelle Daten sprechen zum Beispiel dafür, dass Östrogen eine Proliferationsinduktion der Schilddrüsenzellen bewirken kann. Dies könnte die vermehrte Entstehung von Schilddrüsenknoten bei Frauen mit erklären sowie dass in der Folge Funktionsstörungen wahrscheinlicher werden.
Wird man womöglich von der Messung der Hormonkonzentrationen im Blut wegkommen und auf andere Parameter setzen müssen, um Schilddrüsenerkrankungen definieren zu können?
Idealerweise wird die künftige Analytik alle relevanten Metaboliten abbilden - Professor Josef Köhrle aus Berlin hat dafür den Begriff "Thyronom" vorgeschlagen, also von T4 bis T0, inklusive des TSH-Werts. Hinzu kommen möglicherweise Metaboliten, die mit den Stoffwechselfunktionen der Schilddrüsenhormone zusammenhängen, etwa aus dem Urin oder aus dem Serum/Plasma.
So könnten wir bereits sehr früh und bevor klinische Symptome für den Patienten spürbar sind, Veränderungen in Stoffwechselwegen sehen. Im Forschungskonsortium THYROID TRANS ACT konnten wir solche Marker bereits ermitteln, diese werden nun an speziellen Patientenkohorten weiter untersucht.
Levothyroxin gehört zu den am meisten verordneten Wirkstoffen in der Medizin. Wie ist bei der geschilderten Komplexität der Zusammenhänge derzeit eine rationale Levothyroxin-Therapie möglich?
Führer: Im Moment haben wir nicht viel Besseres und viele Patienten mit Beschwerden kommen damit nicht zurecht. Wenn man sieht, wie viele Metaboliten aus der Schilddrüse kommen oder im Körper entstehen, beginnt man zu ahnen, warum das so ist. Deshalb werden wir auf jeden Fall neue Schilddrüsenpräparate benötigen.
Das ist ein deutliches Signal an die pharmazeutische Industrie: Patienten könnten von T4/T3-Kombinationspräparaten profitieren, deren Verhältnis nicht wie bisher 4:1, sondern zum Beispiel 15:1 beträgt.Und wir benötigen retardierte T3-Präparate. Unsere Schilddrüse setzt den ganzen Tag Hormone frei.
Wir aber applizieren eine oder zwei T3 Dosen, die nur kurz wirken. Das ist unphysiologisch! Außerdem benötigen wir künftig wahrscheinlich für manche Patienten Präparate, die außer T4 und T3 weitere Schilddrüsenhormone oder Hormonderivate enthalten.
All das sind Dinge, die die Pharmaindustrie unbedingt angehen muss, idealerweise gemeinsam mit den in Deutschland etablierten Forschergruppen.
Sie erwähnten bereits das Forschungsschwerpunktprogramm THYROID TRANS ACT, seit 2012 gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Was versuchen die deutschlandweit 20 beteiligten Arbeitsgruppen herauszufinden?
Führer: Es war ein unglaublich wichtiges Signal der DFG, dieses Konsortium einzurichten und gezielt Geld in die Erforschung von Schilddrüsenerkrankungen zu stecken, die einen Großteil der Bevölkerung betreffen. Es war auch eine strategische Entscheidung in Bezug auf klinischen und wissenschaftlichen Nachwuchs für die Endokrinologie.
Wir wollen die zentrale Frage beantworten: Was ist eine gesunde und was eine gestörte Schilddrüsenfunktion? Wir wollen Marker finden, die uns Schilddrüsenfunktionsstörungen zuverlässiger definieren lassen, als herkömmliche Parameter.
Wir wollen eine verbesserte Analytik entwickeln, Risikokonstellationen erkennen, um früher als bislang präventiv oder therapeutisch intervenieren zu können. Wir müssen die Physiologie des Gesunden verstehen, bevor wir Einflüsse auf die Schilddrüsenfunktionen bewerten können.
Für uns steht weniger die thyreotrope Achse im Vordergrund als die Frage, was mit den Hormonen im Blut passiert und warum dieselben Parameter für eine Frau zum Beispiel andere Konsequenzen haben als für einen Mann oder welchen Einfluss bestimmte Erkrankungen auf die Schilddrüsenfunktion haben und umgekehrt.
Die Ergebnisse unserer Forschung werden mit Sicherheit Auswirkung auf die Behandlung der großen Volkskrankheiten haben, seien es kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus, Adipositas, psychiatrische oder osteologische Krankheiten.